Amanda Peters (Autor*in)
Altersempfehlung: ab 16 Jahren- ISBN: 978-3-365-00944-4
- Erscheinungstermin: 15.04.2025
- Seiten: 320
- Verlag: HarperCollins
Covertext
Juli 1962. Eine Mi'kmaq-Familie aus Nova Scotia kommt in Maine an, um den Sommer über Blaubeeren zu pflücken. Einige Wochen später ist die vierjährige Ruthie verschwunden. Sie wird zuletzt von ihrem sechsjährigen Bruder Joe gesehen, als sie auf ihrem Lieblingsstein am Rande eines Beerenfeldes sitzt. Ihr Verschwinden wirft Rätsel auf, die Joe und seine Familie verfolgen und fast 50 Jahre lang ungelöst bleiben.
In
Maine wächst ein Mädchen namens Norma als Einzelkind in einer
wohlhabenden Familie auf. Ihr Vater ist emotional distanziert, ihre
Mutter erdrückend
überfürsorglich. Norma wird oft von wiederkehrenden
Träumen geplagt. Mit zunehmendem Alter ahnt sie, dass ihre Eltern ihr
etwas verheimlichen. Da sie nicht bereit ist, von ihrem Gefühl
abzulassen, wird sie Jahrzehnte damit verbringen, dieses Geheimnis zu
lüften.
Rezension
Aus Joes Perspektive wird rückblickend der traumatische Sommer beschrieben, als die Jüngste der Familie, Ruthie, spurlos verschwindet. Für Joe und die Familie beginnt nicht nur eine erfolglose Suche, sondern ein nicht endendes Trauma, welches jedes Familienmitglied anders verarbeitet. Während Joe sich ein Leben lang quält, weil er Ruthie als Letzter gesehen hat, besitzt seine Mutter einen unerschütterlichen Glauben daran, dass Ruthie noch lebt - und dieser Glaube trägt sie fast 50 Jahre lang. Joe erzählt die Geschichte mittlerweile vom Krankenbett aus, denn er hat Krebs im Endstadium und ist gezeichnet von einem Leben mit vielen Erschütterungen. Trotzdem versucht er mit sich und seinem Umfeld Frieden zu schließen und Ruhe zu finden. Bis eines Tages Unglaubliches geschieht.
Joes Schilderungen wechseln sich kapitelweise ab mit den Erzählungen einer Frau namens Norma, die aus ihrem Leben berichtet. Sie erzählt von ihrem gut situierten Elternhaus, einem distanzierten Vater und der psychisch labilen Mutter, die sie mit ihrer Liebe erdrückt und gleichzeitig nicht zu ihr durchdringen kann. Normas verwirrende Träume aus Kindertagen, viele psychologische Sitzungen und ein innerer Instinkt führen dazu, dass die Frau ihre Existenz hinterfragt. Es gelingt ihr viele Jahrzehnte nicht, Beziehungen stabil aufzubauen und auch ihr Kinderwunsch scheitert an den eigenen Erfahrungen. Erst als die Mutter dement wird, kommt Licht ins Dunkel und Norma begibt sich mit ihrer über alles geliebten Tante June auf eine Reise in die Vergangenheit - und zu sich selbst.
Die Autorin Amanda Peters, deren Vorfahren selbst zu den Mi‘kmaq gehören, eröffnete mir mit ihrem Roman die bis dahin noch unbekannte Welt ihres Volkes und deren Leben von den 60er Jahren bis heute. Zugleich gewährt der Roman einen Einblick in zwei Leben, die mit verschiedenen Traumata belastet sind und deren Umgang damit. Ein zentrales Thema zieht sich durch die Geschichte und verbindet alle Figuren miteinander: Joe und Norma, deren Familienmitglieder und allen voran deren Mütter. Es ist der Verlust eines Kindes. Jede der Figuren geht damit anders um, jeder verarbeitet auf seine Weise diesen unfassbaren Schicksalsschlag und bei jedem wird das Leben maßgeblich dadurch beeinflusst.
Ein Absatz in dem Roman hat mich besonders beeindruckt: Norma gelangt zu der Erkenntnis, dass es für alle Arten von Verlust Bezeichnungen für die Hinterbliebenen gibt: sterben die Eltern, bleiben Waisen zurück; stirbt der Partner, dann hinterlässt er eine(n) Witwe(r). Aber für den nicht in Worte zu fassenden Verlust eines eigenen Kindes gibt es keine Wortschöpfung für die verbliebenen Eltern… das hat mich sehr beschäftigt und beschreibt den Kern des Romans. Dennoch ist dies kein trauriges Werk, sondern es schenkt Hoffnung, dass trotz derartiger Ereignisse das Leben positiv und hoffnungsvoll weitergehen kann. Auch wenn beim Leser relativ schnell der Verdacht aufkommt, dass Joes und Normas Geschichte miteinander verbunden ist und vermutlich im Zusammenhang mit dem Verschwinden Ruthies steht, so bleibt es bis zum Schluss interessant.
Große Spannungsbögen und unerwartete Wendungen sind meiner Meinung nach nicht vorhanden, aber es gibt immer wieder neue Puzzleteile der Geschichte zu entdecken, die sich zu einem Gesamtbild zusammenfügen. Ich empfehle den Roman sehr gern an alle Fans psychologisch tiefgründiger Familienstories weiter, die Gefallen daran haben, einen Blick über den Tellerrand der eigenen Kultur und Sozialisation zu werfen.
Dr. Jekyll